Die DNA von AFS leben – Interkultureller Austausch erfahren

5. November 2022

Als im Winter Russland die Ukraine attackierte und klar war, dass viele Flüchtlinge in die Schweiz kommen würden, hat die Universität Zürich verlauten lassen, dass sie ukrainische Studierende unbürokratisch als Gaststudierende aufnehmen würde. Dies sollte den Ukrainerinnen und Ukrainern ermöglichen, ihr Studium weiter zu verfolgen. Ich erklärte mich bereit, einen Studenten oder eine Studentin aufzunehmen. Ich wollte meinen Beitrag leisten in dieser Situation und hatte auch bereits Erfahrung innerhalb der Familie mit Flüchtlingen. Meine Grosseltern haben während des Vietnamkriegs einen jungen Flüchtling aufgenommen, welcher dann eine Lehre als Elektriker machen konnte. Heute gehört er mit seiner Frau und Kindern zu unserer Familie. Sie sind für uns wie Onkel, Tante und Cousins. 

Zurück ins 2022: Ich meldete mich auf die Anfrage des Institut für Politikwissenschaft nach Gastfamilien und bekam nach einiger Zeit Misha zugewiesen. Am 9. April war es dann so weit. Ich habe Misha beim Hauptbahnhof Zürich abgeholt. Er ist mit dem Railjet aus Wien angereist und war über 30 Stunden unterwegs. Wir gingen zu mir nach Hause, damit er sich von der langen Reise erholen konnte. Am folgenden Tag habe ich mit ihm einen Wanderausflug nach Lugano gemacht über den San Salvatore.

Die Erfahrung mit Misha

Misha ist ein 19-jähriger Student der internationalen Wirtschaftsbeziehungen in der Ukraine. Da es seiner Familie gut geht (seine Eltern wohnen im Westen der Ukraine, die nicht direkt vom Krieg betroffen ist), ist er auch sehr aufgestellt und motiviert. Misha studiert in Kiew, wo eine Bombe direkt gegenüber seiner Unterkunft eingeschlagen war. Die Uni hat den physischen Betrieb eingestellt. Er spricht auch schon sehr gut Deutsch, das er drei Jahre in der Schule hatte. Vor einigen Wochen durfte er an einer UN-Konferenz in Kenia teilnehmen. Er hat auch schon an Erasmus Workshops teilgenommen, einer davon war in Istanbul. Also ein richtiger Active Global Citizen.

Das Zusammenleben gestaltet sich als sehr angenehm, bis jetzt gab es noch keine schwierige Situation. Er hilft von sich aus im Haushalt mit und wollte schon am ersten Tag den Abwasch machen, als ich Chäshörnli für uns gekocht hatte. So ist es auch kein Thema für mich, dass er länger als die vereinbarten drei Monate bleiben darf. Da sein Traumberuf Regisseur ist, er aber das Gefühl hat, dass er damit kein Geld verdienen kann, schauen wir beide uns oft Filme an, die meistens von Misha ausgewählt werden.

Der Anfang der Reise mit AFS

Die Erfahrung mit Misha lässt mich auf einigen Grundlagen aufbauen, die ich mir unter anderem durch AFS aneignen konnte. Nach drei von sechs Jahren im Langzeitgymnasium war klar: wenn ich das Gymi erfolgreich meistern will, müssen meine Noten in den Fremdsprachen besser werden. Meine Eltern meinten, dass wohl ein Auslandsjahr eine gute Möglichkeit wäre, mein Englisch zu verbessern. Die Wahl fiel nach einiger Recherche auf AFS und die USA. Im Sommer 2006 fing das Abenteuer an. Die erste Gastfamilie hat sich erst kurz vor meiner Abreise entschieden, mich als Willkommensfamilie aufzunehmen; die Gastfamiliensuche gestaltete sich schon damals als nicht gerade einfach. In der Schule konnte ich mich gut integrieren: Zuerst im Fussballteam der Schule, später beim Schulmusical.

Als sich die erste Familie wegen familiären Problemen entschied, mich nicht weiter zu hosten, kam ich in eine Übergangsfamilie, dem Bruder des Komitee Chairs. Im Anschluss an diese Übergangslösung stand die Option eines Schulwechsels im Raum. Der Rektor wollte mich jedoch in der Schule behalten und überzeugte eine der Schulsekretärinnen, meine Gastmutter zu werden. Bei Carol und Bill konnte ich den zweiten Teil erfolgreich abschliessen. Die Schule mit über 1000 Schülerinnen und Schülern, aber auch die Gastfamilien haben mich geprägt. So habe ich beispielsweise im Schulchor mitgesungen und durfte sogar im Jazzchor mitsingen, wo nur die besten 10 Schülerinnen und Schüler teilnehmen durften. Auch in der wöchentlichen Bowlingliga konnte ich Freunde gewinnen. Herausfordernd für mich war vor allem das starke schwarz-weiss Bild, das ich im ländlichen Gebiet der USA wahrgenommen habe. Es war alles extrem in die eine oder andere Richtung, es gab so gut wie nichts dazwischen.

Zurück in der Schweiz

Zurück in der Schweiz musste ich aka «Another Fat Student» zuerst einmal eine Diät machen: Das Essen in den USA hat mir auf die Rippen geschlagen. In der Schule lief es mir nun deutlich besser. Da ich mich nach der Austauscherfahrung freiwillig engagieren wollte (wegen den Erfahrungen mit den Freiwilligen im Austauschjahr), habe ich auch gleich zugesagt, als ich angefragt wurde, ob ich mich im Komitee St. Gallen aktiv engagieren wolle. Zuerst als Komiteemitglied ohne Funktionen, habe ich bereits ab dem 2. Jahr die Komitee Kasse übernommen und später die Leitung des Komitees während 10 Jahren verantwortet. Während der Zeit habe ich fast alle Aufgaben im Komitee gemacht, mehrere Volunteer Trainings organisiert, Videos produziert und fotografiert. Die Motivation fand ich in der Sache an sich, den Kontakt mit anderen Menschen und die Möglichkeit neues zu lernen und Verantwortung zu übernehmen.

Mit meiner zweiten Gastfamilie habe ich noch heute Kontakt. Traditionsgemäss am 25. Dezember habe ich zuerst mit Skype aufs Festnetz, später mit WhatsApp angerufen und meiner Gastmutter zum Geburtstag gratuliert (jetzt weiss auch jeder, warum sie Carol heisst). Einige Jahre nach dem Austauschjahr konnte ich sie auch einmal mit meiner leiblichen Familie besuchen. Persönlich entwickelt habe ich mich vom Gymischüler zum promovierten Politologen. Dank den vertieften Englischkenntnissen im Austauschjahr war auch eine Verfassung der Doktorarbeit in Englisch kein Problem.

Seit August 2022 bin ich Postdoctorand im Institut des Universität Zürich. Ich lehre Studierende in Statistik und Programmieren. Bei AFS habe ich nun mehr Zeit für Projekte seit ich die Leitung des Komitees St. Gallen abgegeben hat. Im Moment liegt mein Fokus beim Projekt e-Orientation, welches angehenden Freiwilligen einen einheitlichen Überblick geben soll. Das Projekt ist mir wichtig, da mir bewusst geworden ist, dass viele neue Freiwillige die Struktur und die Möglichkeiten bei AFS nicht gut kennen und alle nur gewisse Informationen erhalten, wobei einiges vergessen geht.

AFS hat mich sicher dahingehend geprägt, dass ich mir bewusst bin, dass auch andere Kulturen ihren Reiz haben, wobei die ukrainische Kultur gar nicht so verschieden ist. Ab und zu kocht Misha mal ein ukrainisches Gericht mit Anleitung seiner Mutter. Nur bei der Nationalsuppe Borsch meinte seine Mutter, die sei zu schwer für ihn. Ich habe dann ein Rezept im Internet gesucht und es für Misha gekocht. Er meinte, es sei sogar noch besser als das seiner Mutter. Aber «pscht», sie darf es nicht erfahren. Einer Frau in der Ukraine zu sagen, ein anderer Borsch sei besser als der ihrige, ist eine schwere Beleidigung. “Смачного!” En Guete!

Dieser Beitrag ist zuerst im Spotlight von AFS Schweiz erschienen.