Der Geist des Konsenses lebt
16. September 2015 | NZZ
Mit der elektronischen Abstimmungsanlage ist die kleine Kammer in einer neuen Ära angekommen. Erstmals ist jetzt das Parlamentarier-Rating der NZZ auch für den Ständerat erstellt worden.
Diesen Moment haben viele Ständeräte gefürchtet – fast wie den Fall des gigantischen Kronleuchters, der über ihnen an der Decke des Ständeratssaals schwebt. Allen voran die abtretenden CVP-Urgesteine Peter Bieri und Urs Schwaller kämpften bis zuletzt gegen die Inbetriebnahme der elektronischen Abstimmungsanlage. Sie wollten nicht wie ihre Nationalratskollegen im jährlichen Rating der NZZ auf einen Punkt zwischen –10 (links) und +10 (rechts) reduziert werden. Eineinhalb Jahre nach dem Start der neuen Ära ist es nun aber so weit.
Bis heute hat die kleine Kammer 385 Mal namentlich abgestimmt. Damit steht eine gute Datenbasis, um Peter Bieri (1,5) und Urs Schwaller (1,6) kurz vor ihrem Abschied einmal noch im politischen Spektrum zu verorten. Dass Schwaller mit seinem Rating-Wert von 1,6 genau die politische Mitte des Ständerats besetzt – die eine Hälfte des Rats politisiert rechts, die andere links von ihm –, stimmt ihn vielleicht etwas versöhnlicher. Schliesslich verkörpert der Freiburger wie wenig andere den Geist der Mitte. Die Positionierung Schwallers in der Fraktion und im Rat macht deutlich, wie sehr nicht nur im National-, sondern auch im Ständerat Politiker aus dem Zentrum der CVP die Mehrheiten machen. In anderer Hinsicht unterscheidet sich die Mittepartei jedoch in den beiden Kammern. Im Nationalrat stimmt die CVP-Vertretung klar am wenigsten geschlossen. Im Ständerat deckt die FDP das grösste ideologische Spektrum ab. Es reicht von der sozialliberalen Christine Egerszegi (1,0) bis zum rechtsfreisinnigen Georges Theiler (5,2).
Schwache Besetzung der Pole
Der auffälligste Unterschied zum Nationalrat ist aber zweifellos die schwache Besetzung der Pole. Dies wird deutlich, auch wenn sich aufgrund der unterschiedlichen Datenbasis die Rating-Werte nicht eins zu eins vergleichen lassen. Wie in seiner Zeit als Nationalrat fährt Peter Föhn (9,6) rechts aussen einen strammen Oppositionskurs. Die vier anderen Vertreter der SVP sind vermehrt dem Geist des Konsenses verpflichtet, politisieren aber dennoch allesamt rechts der Freisinnigen. Das gilt auch für Alex Kuprecht (6,1), dessen gemässigte Haltung in der Parteizentrale nicht immer auf Gegenliebe gestossen ist. Womöglich ist seine Abgrenzung rechts vom Freisinn bereits eine erste Folge des namentlichen Abstimmens im Ständerat. Auch Kuprecht weiss, dass nun nicht mehr nur der Kronleuchter über sein Stimmverhalten wacht. Womöglich fühlt er sich aber noch mehr als von der Abstimmungsmaschine vom Schwyzer Standeskollegen Föhn an seiner Seite beobachtet.
Auf der linken Seite des Rats zeigt sich eine bemerkenswerte Zweiteilung. Ganz links politisiert, trotz seinem Image als grüner Realo, der Genfer Robert Cramer (–9,6). Unterstützung findet er beim anderen Vertreter der Grünen, dem Waadtländer Luc Recordon (–7,8). Die meisten Sozialdemokraten positionieren sich dagegen deutlich näher an der Mitte. Einzig die Genferin Liliane Maury Pasquier (–8,3) politisiert auf der links-grünen Linie. Genf und die Waadt sind die einzigen Kantone mit einer linken Doppelvertretung. Womöglich spielt am Schluss weniger das Parteibuch als die Sitznachbarschaft eine Rolle. Insbesondere die Genfer setzen auf ihre ungeteilte linke Standesstimme.
Richtiggehend eingemittet im Vergleich zur Zeit im Nationalrat haben sich die sozialdemokratischen Schwergewichte Christian Levrat (–3,7) und Paul Rechsteiner (–3,5). Mit dem Wechsel in die kleine Kammer haben sie aber keine innere Wandlung vollzogen. Sie haben sich vielmehr der Kultur des Ständerats angepasst. Demonstratives Stimmen gegen bereits verhandelte Gesetze wird hier nicht gerne gesehen, das Produzieren aussichtsloser Vorstösse ist verpönt. Wer sich nicht zum einflusslosen Aussenseiter machen will, bricht nicht dauerhaft mit ungeschriebenen Regeln.
Schmalere Datenbasis
Ein Grund für die schmale Kluft zwischen SP und Bürgerlichen im Rating ist aber auch die Datenbasis: Im Nationalrat werden alle Abstimmungen öffentlich gemacht, im Ständerat werden bis anhin nur die Schluss- und Gesamtabstimmungen ohne Antrag aus dem Rat veröffentlicht. Die umkämpfteren Detailberatungen bleiben so meist verborgen, und der Rat erscheint harmonischer, als er ist. Wird sich die nationalrätliche Unkultur des demonstrativen Politisierens für die Galerie nun auch im durchleuchteten Ständerat durchsetzen? Das war und ist die Furcht von Peter Bieri und Urs Schwaller. Wie der Vergleich mit älteren Erhebungen der Parlamentsforscherin Sarah Bütikofer zeigt, hat die Zahl der einstimmigen Schlussabstimmungen tatsächlich dramatisch abgenommen. Die Verhaltensänderung setzte allerdings bereits unmittelbar nach den letzten Wahlen ein und nicht erst mit der neuen Abstimmungsanlage.
Ratings wie dieses sind ein Symbol des Wandels und nicht seine Ursache. Es liegt in der Hand jedes einzelnen Ratsmitglieds, den unaufgeregten Geist unter dem überdimensionierten Kronleuchter weiter zu pflegen – auch wenn in Zukunft das eine oder andere Rating zu seiner Erhellung beitragen wird.
Michael Hermann ist Leiter der Forschungsstelle Sotomo der Universität Zürich. Benjamin Schlegel studiert Politikwissenschaften an der Universität Zürich.