Frauen gehen kaum an die Urne – oder doch?

10. Februar 2015 | NZZ

Viele Annahmen sind tief in den Köpfen der Schweizer verankert: Junge nehmen kaum an Abstimmungen teil, Frauen partizipieren weniger als Männer. Doch die Realität ist komplizierter.

Um die Stimmbeteiligung bei Abstimmungen und Wahlen zu ergründen, gibt es mehrere Möglichkeiten. Meistens werden Umfragewerte dafür verwendet, diese sind jedoch häufig verzerrt. Denn Personen, die nicht bei Abstimmungen und Wahlen partizipieren, nehmen auch weniger häufig an Umfragen teil. Die Verzerrungen können teilweise korrigiert werden. Ein grosses Problem ist jedoch, dass bei Telefonumfragen nur Personen befragt werden können, welche einen Festnetzanschluss besitzen. Junge haben jedoch häufig nur noch ein Mobiltelefon. So wurde die Stimmbeteiligung von Jungen nach der Masseneinwanderungsinitiative in der Vox-Analyse massiv unterschätzt.

Eine andere Möglichkeit, die Stimmbeteiligung zu untersuchen, sind Stimmregisterdaten. Im Kanton Genf und in der Stadt St. Gallen werden alle Stimmrechtsausweise erfasst. In St. Gallen sind die Daten mit Merkmalen, wie beispielsweise Alter, Geschlecht und Konfession, ergänzt. Die Gemeinde Bolligen im Kanton Bern hat für einige Abstimmungen die Stimmregisterdaten ebenfalls erhoben. Die Stadt St. Gallen ist jedoch die einzige Gemeinde, welche die Daten seit 2010 systematisch und über die Zeit vergleichbar erfasst. So ist es möglich, bei jedem (anonymisierten) Individuum herauszufinden, wie häufig er oder sie an die Urne gegangen ist.

Die Daten der Stadt St. Gallen zeigen, dass junge Stimmberechtigte tatsächlich seltener an Abstimmungen teilnehmen als die ältere

Bevölkerung. Auch wird ersichtlich, dass einige Jahre nach dem Pensionsalter die Partizipation wieder abnimmt. Die Stimmbeteiligung der Jungen bei der Masseneinwanderungsinitiative war jedoch mit über 40 Prozent bedeutend höher als in der Vox-Analyse angenommen. Dort wurde die Stimmbeteiligung der Jungen auf 17 Prozent geschätzt. Auch bei den anderen Abstimmungen sieht die Kurve ähnlich aus. Das Gerücht, dass Junge kaum an Abstimmungen teilnehmen, stimmt also nicht.

Ein weiteres Gerücht ist die tiefe Beteiligung der Frauen. Betrachtet man nur die Durchschnittswerte, weisen Frauen tatsächlich eine tiefere Beteiligung auf. Bei genauerem Hinschauen ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild. Nur Frauen, die das theoretische Stimmrechtsalter vor der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 erreicht haben, weisen eine unterdurchschnittliche Beteiligung auf. Junge Frauen, die bereits beim Erreichen der Volljährigkeit stimmberechtigt waren, stimmen tendenziell sogar etwas häufiger ab als junge Männer, wobei der Unterschied gering ist. Das Gerücht stimmt nur für die Generation der älteren Frauen, welche vor den 1950er Jahren geboren sind. In einigen Jahrzehnten wird der Unterschied voraussichtlich ganz verschwunden sein.

Der Politikwissenschafter Clau Dermont hat in seiner Masterarbeit in der Universität Bern die selektive Partizipation untersucht. Er hat die Stimmregisterdaten der Gemeinde Bolligen und der Stadt St. Gallen untersucht und festgestellt, dass 80 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zumindest ab und zu an die Urne gehen. Oder andersherum: Nur jeder fünfte Bürger bleibt der Urne generell fern. Die Annahme, dass viele Bürgerinnen und Bürger der Urne generell fernbleiben, ist damit ebenfalls widerlegt.